Berichte  
Vorgestern

Die Sonne blendet mich. So begann der Tag vorgestern. Ein ganz normaler Alltag mit alltäglichen Problemen und Dummheiten. Ein alltäglicher Alltag, völlig alltäglich – eben wie man ihn alltäglich kennt. Erst duschen gehen, währenddessen ausrutschen, sich dann vergebens am Wasserstrahl hochziehen, um dann sanft aber kräftig gegen die Wand zu klatschen. Und als ob es nicht reichen würde, ignorierte eine Wespe das viele Wasser, das auf sie prasselte, und stach mich liebevoll in meinen Arm.
Restalkohol nennt sich das. Aber der Tag ist noch lang. Völlig optimistisch ging ich in die Küche, um zu frühstücken. Ich wollte etwas Öl in die Pfanne kippen, als es plötzlich anfing zu brennen. Das Rührei brannte im Hals. Später merkte ich, es war der Jägermeister von gestern, den ich mit Öl verwechselte.
Aber egal, der Tag ist noch lang. Ich ging in die Stadt, um einige Einkäufe zu tätigen. Ich setzte mich zuerst in ein Café, um etwas zu trinken. Zu meinem Glück verschüttete die neue Aushilfe den heißen Tee nur auf meine Beine und nicht auf mein Gesicht. Sie war später sogar so lieb und brachte mir ein kühles Radler. Leider stolperte sie. Die Abkühlung bekam ich trotzdem.
Als ich danach über die Einkaufsstraße ging, lächelte mich eine entgegenkommende Dame an, worauf ich unachtsam mit Schmackes gegen eine Straßenlaterne lief. Alles war schwarz. Aufgewacht bin ich im Krankenwagen. Der liebe Sanitäter sagte mir, ich hätte mir die Nase gebrochen. Als ich aus dem Krankenhaus kam, war es Nachmittag. Der Tag ist noch lang, dachte ich mir. So ging ich nach Hause, um mich für den Abend fertig zu machen.
Endlich war ich nüchtern und bei klarem Verstand, dachte ich. Vor dem Club stand wie immer der Türsteher, welcher mich auslachte wegen meinem Verband an meiner Nase und mich nicht reinließ. „Da hat wohl jemand Rhinozeros gespielt und hat dabei sein Horn verloren“, schrie er laut raus. Die vielen Frauen lachten mich aus. Mit gesenktem Kopf sollte es Richtung nach Hause gehen, bis plötzlich die Dame von Heute auftauchte und mich wieder anlächelte.
Heute? Tut mir leid, seit ich sie hier jeden Tag sehe, vergesse ich immer die Zeit, wenn ich ihr in die Augen schau …

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Mit seinem Text „Ich habe einen Migrationsuntergrund“ kam Ibrahim Atas im März beim Poetry Slam des Ostendorf-Gymnasiums auf den ersten Platz. Im „Solo Slam“ schreibt er jetzt exklusiv für den Patriot. Als Video gibt es „Vorgestern“ auf unserer Homepage, einfach dem QR-Code folgen.
Foto: Tuschen

 

Quelle: Der Patriot, 5. November 2016