Berichte  
Gruppenkuscheln mit der Diktatur

Quelle: Der Patriot, 24.06.2022

Ostendorf-Schüler beeindrucken bei „Schultheatertagen“ mit „Die Welle“

Von Andreas Balzer

Lippstadt – Es beginnt mit einer säuselnden Podcast-Stimme, die zu Easy-Listening-Musik die deutschen Grundrechte vorliest. Als kleines Betthupferl vor dem Einschlafen.

Doch Schläfrigkeit ist in der Demokratie keine gute Sache, das zeigt sich sehr schnell, als die junge, alternativ angehauchte Lehrerin Susanne Wenger (Kim Jolie Schulz) in der Projektwoche ein gewagtes Experiment zum Thema Autokratie durchführt – und ihre Schüler innerhalb kürzester Zeit in einen faschistischen Mob verwandelt.

Morton Rhues Jugendbuchklassiker „Die Welle“ basiert auf einem Experiment, das 1967 tatsächlich an einer kalifornischen Schule stattgefunden hat. Im Rahmen der „Schultheatertage“ auf der Lippstädter Studiobühne gelang es dem Literaturkurs Q 1 des Ostendorf-Gymnasiums, die Geschichte in einer packenden Inszenierung in die Gegenwart zu holen. Als Grundlage diente dabei die deutsche Filmadaption von Dennis Gansel (2008).

Diktatur? Könnte es bei uns nie geben! „Dafür sind wir viel zu aufgeklärt“, sagt eine Schülerin noch zu Beginn des Experiments. Doch in schnellen Szenenwechseln führt die sehr dynamische Inszenierung von Sabine Lepping quasi im Zeitraffer vor, wie demokratische Grundsätze über Bord geworfen werden.

 

Lehrerin Susanne Wenger (Kim Jolie Schulz, l.) wagt mit ihren Schülern ein gefährliches Experiment. Foto: Balzer

Es beginnt mit scheinbar harmlosen Disziplinübungen. Die vorher so kumpelhafte Lehrerin wird im Unterricht nicht mehr geduzt, gesprochen wird nur im Stehen und nach Aufforderung. Doch wer nicht mitmachen will, sich etwa der neuen „Uniform“ aus weißem T-Shirt und roter Armbinde verweigert, wird schnell ausgeschlossen – vor allem Caro (Finja Süwolto), die von ihrer eigenen Schwester (Vivien Krilleke) nicht mehr in die Schule gelassen wird. Und das alles passiert im Hier und jetzt. Nutzen die Nazi-Azubis doch nicht zuletzt Facebook und Instagram, um den Ungeist ihrer zunehmend gewalttätigen Bewegung zu verbreiten. In einer beeindruckend animierten Videosequenz wird die ganze Stadt mit dem Logo der „Welle“ besprüht.

Das durchweg überzeugende junge Ensemble führt diese zunehmende Radikalisierung und Uniformität geradezu mustergültig vor. Ist die Sitzordnung im Klassenzimmer zu Beginn noch lässig ungeordnet, werden alle Bewegungen und räumlichen Anordnungen immer einheitlicher und starrer. Das beklemmende Schlussbild samt jugendlichen Fahnenschwingern vor schwarz-rotem Hintergrund sieht aus, als hätte es Leni Riefenstahl persönlich inszeniert.

In dieser Szene muss Susanne Wenger, die ihren Schülern eigentlich zeigen wollte, wie leicht scheinbar gefestigte Demokraten zu verführen sind, endgültig einsehen, dass sie zu weit gegangen ist. Denn Tim (Lennart Reinecke) ist der „Welle“ völlig verfallen und zieht eine Waffe. Es fallen Schüsse.

Am Schluss säuselt wieder die Podcast-Stimme: „Wer in der Demokratie schläft, wacht in der Diktatur auf“. Man muss sich gerade nur mal in der Welt umsehen, um zu wissen, wie wahr dieser Satz ist.