Berichte  
Westler küssen anders

Ostendorf-Literaturkurs begeistert mit „Sonnenallee“
„Ich lebe in der DDR, ansonsten hab ich keine Probleme“, heißt es im Stück „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“. Die amüsante DDR-Komödie nach dem gleichnamigen Roman von Thomas Brussig hat sich der Literaturkurs des Ostendorf-Gymnasiums für seinen zweiten Beitrag für die „Schultheatertage“ ausgesucht.
28 Jahre nach der Wende ist der Stoff offenbar immer noch hochinteressant, die Studiobühne platzt aus allen Nähten. Etwa 30 Darsteller und noch einmal zwei Dutzend „FDJ-Pioniere“ machen dabei mit. „Pioniere voran, lasst uns vorwärts gehen, Pioniere voran, lasst die Fahnen weh’n“, singen die Kinder aus vollem Herzen. Das hätte Genosse Honecker, dessen jugendliches Konterfei im Bühnenbild an der Wand hängt, sicher zu Tränen gerührt.
Rührend ist auch der durchaus authentische Einblick in die Welt Heranwachsender im realsozialistischen Staat. Micha Kuppisch (Claudius Brockmann), von seiner Mutter mit ihrem Faible für Russland gerne Mischa genannt, lebt mit Eltern und Geschwistern in der Sonnenallee, direkt an der Berliner Mauer.
Man ist scharf auf Westprodukte und schmuggelt, was das Zeug hält. Ob Schallplatten, die „Bravo“ oder die Keksrolle, die Tante Elfi (Annalena Maria Finger) sich mit Tesafilm an die Wade geklebt hat.
Die Rolling Stones retten Michas Freund Wuschel (Kira Madléne Bracht) am Ende sogar das Leben. Die Kugel eines Volkspolizisten hat seine Jacke genau dort zerfetzt, wo das Herz sitzt. Gut, dass darunter das Doppelalbum „Exile On Main Street“ versteckt war und die Kugel ablenkte. Eine eindrucksvolle Szene: die beiden „Vopos“ im Hintergrund nur als Schatten vor einem riesigen Vollmond sichtbar, ein Schuss aus dem Lautsprecher, der zusammenzucken lässt. Eine effektvolle Erinnerung daran, dass trotz aller Komik und Ostalgie, das Leben in der DDR auch gefährlich war.
Zum guten Schluss erfährt das Publikum natürlich noch, ob Micha von seiner angebeteten Miriam (Victoria Brannekemper) endlich den versprochenen Kuss bekommt. Die hatte nämlich zuvor einen Jungen aus der BRD geküsst, und festgestellt: „Westler küssen einfach anders.“
Eine turbulente Aufführung, mit vielen schönen Dialogen, tollen technischen Einfällen, beispielsweise die eindrucksvolle Erscheinung des grünen Wählscheiben-Telefons, wie eine Offenbarung von oben, und ganz viel Musik und Choreografie. Da sind der eine oder andere kleine Texthänger oder die an einigen Stellen mal etwas dünnen Sprechstimmen schnell verziehen.
Am Ende singen und tanzen alle gemeinsam zu „The Letter“ und bekommen den verdienten Applaus.

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Micha (Claudius Brockmann, l.) kann nicht glauben, dass seine Schwester schon wieder einen neuen Freund mit ins DDR-Wohnstübchen gebracht hat.

Foto: Wissing
Quelle: Der Patriot, 23.06.2017